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bvvp PM: G-BA verabschiedet Komplexrichtlinie: Ein Hoffnungsschimmer für die Versorgung insbesondere schwer psychisch kranker Menschen, doch es bleibt Nachbesserungsbedarf
Berlin, 03.09.2021. Am 2. September 2021 hat das Plenum des Gemeinsamen Bundesausschusses G-BA die „Richtlinie über die berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit komplexem psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf“ verabschiedet.
Der Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) kritisiert trotz guter Ansätze das Gesamtergebnis. „Mit diesem Beschluss wird sich die Richtlinie nur schwer flächendeckend umsetzen lassen. Man muss nun abwarten, ob sich daraus tatsächlich eine Verbesserung der Versorgung der Patientinnen und Patienten mit komplexem Behandlungsbedarf ergibt“, so Ulrike Böker, Vorstandsmitglied des bvvp.
Nach langen Verhandlungen, in denen alle Seiten um ein gutes Ergebnis bemüht waren, ist nun erstmals eine Richtlinie verabschiedet worden, die insbesondere die koordinierte Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen durch eine noch bessere Zusammenarbeit unterschiedlicher Beteiligter bei deren ambulanter Behandlung zum Ziel hat. Auch der bvvp hatte diese neue Richtlinie unterstützt und betrachtet sie grundsätzlich als positiv.
Laut dem Beschluss können nun auch Psychologische und Ärztliche Psychotherapeut*innen in der Sprechstunde eine erste Basis-Diagnostik und die Prüfung der Eingangskriterien durchführen sowie später in den meisten Fällen die Behandlungsführung der Patient*innen, die in der neuen Richtlinie eingeschrieben sind, übernehmen und den Behandlungsplan erstellen. Dies ist nach Auffassung des Verbands erfreulich und sachgerecht.
Entgegen der Forderung aller psychotherapeutischen Verbände und der KBV werden sie jedoch nicht befugt sein, das für die Einschreibung notwendige differentialdiagnostische Eingangs-Assessment eigenständig durchzuführen. In jedem Fall sind zwingend Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie und Fachärzt*innen für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie einzubeziehen.
Der bvvp sieht es als problematisch an, dass den Patient*innen dadurch vorgeschrieben wird, durch wen sie sich begutachten lassen müssen. Gerade bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen spielten jedoch das Vertrauensverhältnis und die Behandlungskontinuität eine wichtige Rolle für eine erfolgreiche Behandlung. Und gerade diesen Patient*innen werde nun eine Diskontinuität zugemutet.
Dies sei fachlich nicht nachvollziehbar, denn auch die Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeut*innen seien bestens dazu ausgebildet, differenziert zu diagnostizieren und zu indizieren, so der Verband. Außerdem seien Psychologische Psychotherapeut*innen bereits laut ihrer Berufsordnung verpflichtet, ein somatisches Konsil einzuholen. „Indem man diesen Berufsgruppen die vollständige Indikationshoheit verwehrt, werden sie nicht auf Augenhöhe an der Behandlung beteiligt“, kritisiert Ulrike Böker.
Ein weiteres Problem ergebe sich daraus, dass es vielerorts einen eklatanten Psychiater*innenmangel und Mangel an Psychosomatiker*innen gebe. Daher stünden die nun zwingend notwendigen Ressourcen für das Eingangs-Assessment nicht zur Verfügung. „Das bedeutet faktisch: Vielerorts werden die Patientinnen und Patienten durch das in der Richtlinie verankerte Nadelöhr bei der Eingangsdiagnostik keinen Zugang zu der neuen Richtlinie haben!“, bilanziert bvvp-Vorstandmitglied Ulrike Böker. Hinzu komme, dass nur Niedergelassene mit einem vollen Versorgungsauftrag an der neuen Richtlinie teilnehmen könnten. Das bedeute, dass die Überzahl der Psychotherapeut*innen und deren Patient*innen ausgeschlossen seien. Dies sei eine für die Versorgung katastrophale Einschränkung.
Zur Historie: Der Gesetzgeber hatte den G-BA bereits 2019 mit der Erarbeitung dieser Richtlinie beauftragt. Hintergrund war die Diskussion um das Problem, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen es besonders schwer haben, eine gute ambulante Versorgung und einen Psychotherapieplatz zu bekommen. Diese Patient*innengruppe benötigt eine auf sie zugeschnittene Form der Versorgung, die über die Möglichkeiten der bisherigen Psychotherapie-Richtlinie hinausgeht. Die Zielsetzung dieser wichtigen und vom bvvp begrüßten gesetzliche Beauftragung wird nach Ansicht des Verbandes durch das Ergebnis nun nur teilweise erfüllt.
„Wir haben uns 2018 in einer Bundestagspetition erfolgreich dafür eingesetzt, dass es für psychisch kranke Menschen keine Vorbegutachtung geben darf, bevor sie die Behandlung beim Psychotherapeuten, bei der Psychotherapeutin ihrer Wahl beginnen können. Nun wird dieser „Vorgutachter“ durch die Hintertür wieder eingeführt“, so Vorstandsmitglied Ariadne Sartorius, die damalige Petentin.
Benedikt Waldherr, Bundesvorsitzender des bvvp, ergänzt: „Wir werden das nicht tatenlos hinnehmen und nun beim BMG als Rechtsaufsicht darum bitten, dass der Beschluss beanstandet und im Sinne der Versorgung nachgebessert wird!“ Sollte das nicht der Fall sein, wird sich die Richtlinie daran bemessen lassen müssen, ob sie tatsächlich flächendeckend zur Verfügung gestellt werden kann. Der bvvp unterstützt hier die Forderung der KBV nach einer umfangreichen und sorgfältigen Evaluation.
Der Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten – kurz bvvp – ist der einzige Verband, der sich berufsgruppen- und verfahrensübergreifend für die Interessen aller Vertragspsychotherapeut*innen einsetzt. In ihm haben sich über 5.600 Ärztliche Psychotherapeut*innen, Psychologische Psychotherapeut*innen sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen aller anerkannten Richtlinienverfahren zusammengeschlossen.
Für den bvvp
Dipl.-Psych. Benedikt Waldherr
Vorsitzender des bvvp
Dipl.-Psych. Ulrike Böker
Mitglied des Vorstands